Was man sieht, ist nicht immer das, was es zu sein scheint
Nina Laafs Skulpturen und Installationen sind oft ortsspezifisch, sie kennzeichnen sich durch Interventionen im Raum, beschreiben oder strukturieren diesen und öffnen zugleich ihren eigenen Raum. Wenn man sich bei der Betrachtung auf eine
Perspektive beschränkt, verpasst man die Freude am Entdecken von Details und konzeptionellen Hintergründen, die zu einer Vielzahl von Lesarten und Gedanken führen können. Um ihre Kunst in vollem Umfang zu erleben und zu begreifen, ist
es wichtig, sich dem Werk aus verschiedenen
Perspektiven zu nähern. Laafs künstlerische
Methoden sind eng mit architektonischem Denken und räumlichen Überlegungen verbunden. Ihre Skulpturen und Installationen sind zwar Eingriffe in den Raum, behalten jedoch gleichzeitig ihre Autonomie. Ihre künstlerische Logik kann sich an unterschiedliche Situationen und Räume anpassen. Zunächst befragt sie den Ausstellungsraum,
begutachtet architektonische Details und markante Stellen. Zweifelsohne kann keine Skulptur oder Installation existieren, ohne mit ihrem Atem den Raum zu berühren. Laafs Kunstwerke untersuchen diese Beziehung sorgfältig. Als ob sie ein Doppelleben führen, scheinen die meisten ihrer Werke zwei Seiten zu haben. Zu sehen ist das
beispielsweise in die wilde Fleurie (2022), die im Rahmen der Ausstellung Retour de Paris im Botanischen Garten Karlsruhe nach einem Stipendienaufenthalt in Paris gezeigt wurde. Die Innen- und Außen perspektiven werden genauestens untersucht und in zwei verschiedenen Dimensionen
dargestellt: der Sockel als Basis und die Form als Hauptteil des Werks. Der Stahl ist spielerisch wie Papier gerollt. Durch verschiedene Aussparungen in beiden Teilen, die zufällig erscheinen und unterschiedliche Formen und Größen haben, ist das Publikum eingeladen, die Welt in Fragmenten zu betrachten. Genauso kann das Gras durch diese Formen wachsen, so wie wir hindurchschauen können.
Betrachten wir nicht alle die Welt und das Leben aus unterschiedlichen Realitäten
und individuell geprägten Perspektiven?
In ihrem Künstlerinnenstatement schreibt Laaf: „Mich interessieren Systeme, deren Funktionen, Verbindungen und Ordnungen innerhalb – sowohl menschlich als auch
industriell. Durch das Ausloten unterschiedlicher Werkstoffe beschäftige ich mich spielerisch mit den Materialeigenschaften, inszeniere und hinterfrage ihre Beschaffenheit und kehre sie teils um. Ich greife handwerkliche Referenzen und Techniken auf und stellt diese in einen neuen Kontext. Es entsteht Raum für Gegenüberstellungen und Irritationen, so ist nicht immer das, was man sieht, auch das, was es zu sein scheint – eine Art Rollentausch zwischen Volumen, Leichtigkeit, Stabilität und Oberfläche.“ Diese Formulierung beschreibt den Kern ihrer Arbeit sehr gut. Was meine Aufmerksamkeit erregte und mich für den Titel meines Textes inspirierte, war:
„Was man sieht, ist nicht immer das, was es zu sein scheint.“ Diese Formulierung ruft zu einer skeptischen Haltung auf und lässt uns unsere Realität in Frage stellen, genau das tun ihre Werke. Sie lassen uns daran denken, dass wir in einer pluralistischen Welt mit vielen Dimensionen, Geschichten und Perspektiven leben und daran, dass
skeptisch zu sein neue Welten eröffnen kann, was uns an die Unmöglichkeit einer
einzigen Wahrheit und Perspektive erinnert.
Ich hatte die Gelegenheit, Laaf in ihrem Atelier zu besuchen. Das Erste, was mir an ihren Werken auffiel und mich beeindruckte, war, dass sie nicht gleich alles über sich preisgeben. Ihre Bildsprache vermittelt einen bestimmten Raum, aber erhebt nicht den Anspruch, die einzige Wahrheit zu sein. Die Arbeiten wenden sich nicht an das Publikum mit den Worten: „Das ist es, was ich denke, das ist genau das, was mich ausmacht, hier beginne und ende ich.“ Weder geben sie vor, noch behaupten sie, alles über sich selbst und ihr Umfeld zu wissen. Im Gegenteil, sie vermitteln eine
poetische Offenheit, Raum für Interpretationen, Transparenz und kleine Andeutungen. Ohne dabei widersprüchlich zu sein, verkörpern sie gegensätzliche Eigenschaften. Sie leben von kleinen Gesten und Details, stellen damit tatsächlich „statische Strukturen“ in Frage und schaffen fließende Formen.
Auch die Skulptur nicht mein letztes Hemd, aber mein Liebstes (2022) trägt eine
Dualität in sich: Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit zugleich. Die ernste, statische Stahlskulptur bildet eine Ecke, scheint ein Hemd zu umarmen, zu bedecken oder zu schützen. Es geht nicht um irgendein Hemd, der Titel der Arbeit zeichnet es als
Lieblingshemd aus. Unklar, ob es verloren, vergessen oder in die Jahre gekommen ist. Im öffentlichen Raum installiert, könnte man es so lesen, als stamme es von Obdachlosen oder als Überbleibsel einer dramatischen Szene, was jedoch offen bleibt.
Den Werken Laafs gegenübergestellt, ist man gefordert, auf Details zu achten.
Bei Paravent (2023) ist am höchsten Element der dreiteiligen Arbeit ein kleines
Detail zu finden, das an Flugzeugflügel oder Vogelschwingen erinnert und die
gesamte Skulptur hochzuheben scheint. Mit solchen Feinabstimmungen und kleinen Gesten gelingt es ihr, ästhetisch beeindruckende Werke zu schaffen. Um Nina Laafs Ausstellungen im Gesamten zu erfahren, empfehle ich, sich Zeit zu nehmen und sich solche Details genau anzuschauen, denn dann entfaltet sich ihre visuelle Sprache.
Neben den Details spielt auch die Perspektive eine wichtige Rolle. Je nach Blickwinkel kann man sehen, was gesagt und was noch nicht erzählt wurde. In diesem Sinne könnte man sagen, dass An- und Abwesenheit ein wesentlicher Aspekt in dieser
Ausstellung ist. nacre (2021) und Paravent (2023) verweisen auf beides, auf die innere und die äußere Form, auf die An- und Abwesenheit. Diese Dualität stellt Gewiss heiten in Frage. So gesehen ist die Ausstellung fast wie ein zärtlicher Tanz formaler Kontraste. Die Ketteninstallation gravity – Vermessung des Raums (2023), die Decke und Boden verbindet, besteht ebenfalls aus Gegensätzen. Die runde, weiche Form
ist einer scharfen Kante gegenübergestellt, es könnten Tropfen oder Tränen sein.
Obwohl alle Elemente zusammengesetzt dieselbe Funktion erfüllen, ist jedes Kettenglied unterschiedlich. Die Ausstellung ist voller spielerischer Gesten. Nicht kindlicher Natur, sondern selbstbewusste Anordnungen, die eigene Räume, Formen und
Materialbeschaffenheiten aufzeigen.
Die Vorhanginstallation Wie durchlässig kann eine Form sein? (2023) gibt Einblick in die künstlerische Vorgehensweise von Nina Laaf. Sie umhüllt den Raum teilweise, wobei ihre runde Form die Kanten des Raumes aufweicht und verändert. Die Transparenz des Stoffes verweist auf den Aspekt der An- und Abwesenheit und bietet zwei verschiedene Filter, von innen und außen, die verschiedene Perspektiven auf das nacre Ensemble ermöglichen. Auch die Beziehung der Werke untereinander ist
erwähnenswert. Als würde die Installation die Skulpturen umarmen, einrahmen oder begleiten, behält sie ihre Autonomie bei.
Als ortsspezifische Ausstellung funktioniert Nina Laafs jüngste Einzelausstellung wie ein eigenständiges Werk. Charakteristisch dafür und prägend für die gesamte Ausstellung ist nicht zuletzt die Rauminstallation ohne Titel – blauer Raum (2023). Als Statement
im Raum hat sie zwei Richtungen, horizontal und vertikal. Es ist kein Zufall, dass sie hauptsächlich aus Teppich besteht, der das Publikum einlädt,
ihn zu betreten und Teil davon zu werden.
Wer sich das nicht traut oder sich gar draufsetzt, verpasst die Chance, die Installation ganz zu
erleben – denn sie ist nicht nur zum Betrachten, sondern auch zum Fühlen gedacht.
Durch Spannung, Bewegung und Transparenz schafft Laaf Formen, Schichten und Räume. Sie konfrontiert das Publikum mit seiner Komfortzone, und suggeriert Undenkbares. Ich bin neugierig, ihre künstlerische Praxis weiter zu verfolgen,
um mehr Vorschläge für vielfältige Realitäten
und Perspektiven auf die Welt zu sehen. Inspiriert von ihrem künstlerischen Ansatz, möchte ich
meinen Text mit einem Zitat von Masashi
Kishimoto beenden: „Die Menschen leben ihr Leben in Abhängigkeit von dem, was sie als
richtig und wahr akzeptieren. Auf diese Weise
definieren sie die Realität. Aber was bedeutet es, ‚richtig’ oder ‚wahr’ zu sein? Bloß vage Begriffe … Ihre Realität ist vielleicht nur eine Fata Morgana. Können wir davon ausgehen, dass sie einfach in ihrer eigenen Welt leben, die von ihren Über zeugungen geprägt ist?“
Von Didem Yazıcı
Künstlerische Leiterin, Yapı Kredi Galerie, Istanbul
Freie Kuratorin, Karlsruhe